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LESEPROBE - DONDE ESTÁS

Einleitende Worte: Luna ist an diesem Morgen völlig durch den Wind. Wieder hat sie von diesem Mann geträumt, den sie gar nicht kennt, aber der so präsent ist in ihren Träumen. Sie beschließt eine Wanderung zu machen. Sie muss einfach mal raus an die frische Luft und ins Sonnenlicht von Mallorca, ihrer geliebten Heimatinsel. Ihr Ziel ist das Castell d`Alaró auf einem Berg in der Mitte der Insel.



Luna Cabrera-Ruiz - Oben angekommen holte ich mir bei José, dem Gastgeber der Herberge, einen Café con Leche und ein Stück von seinem frisch gebackenen Mandelkuchen. Mit meinen Schätzen setzte mich auf die breite Steinmauer. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick über die Insel, die Hauptstadt und das blaue Mittelmeer dahinter, dass sich bis zum Horizont erstreckte. Ich schloss meine Augen, fühlte das Land und das Meer, die Sonne darüber und den Mond. Ich fühlte den weiten Raum, in dem all dies über Millionen von Jahren entstanden war.


Etwas trug mich davon, packte mich und zog mich hinaus in diese Weite, in diesen Raum, diesen unendlich weiten Raum und aus seiner tiefen Schwärze formte sich ein Gesicht. Wilde wasserblaue Augen funkelten mir entgegen. Es waren die Augen eines Wikingers. Ich fühlte mich leicht, bewegte mich tanzend im Fackelschein. Meine Lippen formten die Worte, spielerisch, verschwörerisch, verführerisch.


Ich wollte ihn.

Ich hatte ihn erwählt.

Ich hatte die Macht über ihn.

Ich nahm ihn mir.


Schon damals war ich eine kleine Hexe und wusste wonach er sich sehnte. Ich führte ihn durch die dunklen Gänge der Burg in mein Gemach. Kerzenschein fackelte an den Steinwänden. Er packte mich mit seinen kräftigen Händen, hob mich hoch, als wäre ich eine Feder, so leicht und so frei. Seine großen Hände, wie Bärentatzen, sie waren überall auf meiner weißen, nackten Haut. Meine langen blonden Haare wirbelten mit einer Kopfbewegung durch die Luft, unsere Lippen tranken den anderen, gierig, feurig, als wäre es der letzte Schluck Leben, den es auszukosten galt. Wir berauschten uns in dieser Nacht, an neuen Körpern, deren Seelen sich schon ewig kannten. Es war ein Wiedersehen nach langer Zeit und wir genossen jede Sekunde und jeden Atemzug. Dies war eine jener Nächte, in der das Leben übersprudelte und das Wunder der Schöpfung feierte. Geschmiedet wurde das neue Menschenleben in heißer Glut. In dem Feuer dieser Leidenschaft formte sich die Zukunft. Es war eine Zukunft, die blutige Kriege hinter sich ließ.


Die Vision war so heftig, mein ganzer Körper bebte. Ich konnte IHN, hier auf der Mauer sitzend, wahrhaftig in mir spüren. IHN mit seiner ganzen Männlichkeit, die mich vollständig ausfüllte, und IHN, unseren Sohn, der in dieser Nacht gezeugt wurde.


„Luna? Puedo sentarme?“ José riss mich abrupt aus meinem Gedanken. Blitzschnell sammelte ich mich und kam zurück in den heutigen Tag. „José! Quanto tiempo sin verte! Si, por favor!“


Ich ließ mir meine Verlegenheit nicht anmerken. Innerlich bebte mein ganzer Körper immer noch. So musste es sich anfühlen, wenn das Suchen zum Sehnen wird. Dieser Mann in meinen Träumen verfolgte mich, raubte mich, ließ mich zappeln und spielte mit mir. Und jedes Mal nahm er mich, verschlang mich mit Haut und Haaren, so dass nichts von mir übrig blieb. Er war mir so vertraut. Er kannte mich und ich kannte ihn, wir waren eine Einheit. Und doch, war das vielleicht nur ein Hirngespinst. Ich musste mich zusammenreißen.


„Wie geht es Dir, mein lieber Freund?“ Ich hatte José vor einigen Jahren von einer scheinbar unheilbaren Krankheit geheilt. Seitdem erfreute er sich an blendender Gesundheit. „Luna, me siento fenomenal! Das Leben hat für mich eine ganz neue Qualität bekommen. Ich bin Dir so dankbar!“ Er drückte mich in seiner überschwänglichen Freude. Freude! Sie war so wichtig. Sie war das Elixier eines gesunden Körpers. Wahre Herzensfreude war pures Sonnenlicht, das aus dem Innen strahlte.


„Aber sag, wie geht es DIR? Du machst mir so einen nachdenklichen Eindruck.“ José hatte eine gute Beobachtungsgabe. Ich überlegte kurz. Instinktiv entschied ich mich für die Wahrheit, auch wenn es absolut verrückt klingen musste. Ich erzählte José von meinen Visionen. „Weißt Du, es ist so real! Aber ich kenne diesen Mann überhaupt nicht. Ich habe ihn noch nie gesehen. Das ist doch total verrückt!“Beinah überschlug sich meine Stimme. Ich war verzweifelt. José war auch ein guter Zuhörer. Er dachte kurz nach und sein Blick streifte dabei über die Weite des Landes. Wir saßen beide auf der Mauer des Castells und unsere Beine baumelten in die Tiefe. „Es gibt Dinge, die kommen aus der Tiefe unserer Seele. Manchmal dauert es eine Weile, bis wir sie verstehen.“ Er nahm meine Hand und drückte sie. Ich glaube, er hatte mich noch nie so aufgelöst gesehen. „Ich bin sehr gespannt auf diesen Mann!“ Sagte José mit einem Augenzwinkern. Er war überzeugt. Dieser Mann würde früher oder später in mein Leben treten.


Ich saß noch eine Weile auf der Mauer. José hatte sich mit einer langen Umarmung verabschiedet. Es waren neue Gäste gekommen und er musste sich in der Cafébar um sie kümmern.


Wieder schweiften meine Gedanken ab. Wieder war ER die Hauptperson, mein Wikinger. Hatten wir dieses Leben damals wirklich gemeinsam gelebt? Ich dachte über José’s Worte nach. Würde er tatsächlich kommen, dieser geheimnisvolle Mann meiner Träume? Würde ich ihn überhaupt erkennen, wenn er vor mir stünde? Ich malte mir in allen Einzelheiten aus, wie solch ein Wiedersehen geschehen könnte. Wie würde es sein, seinen Seelenpartner zu treffen?


So saß ich dort auf der Mauer des kleinen Castells. Tief in Gedanken versunken, ritzte ich mit einem Stein etwas in die Mauer. Wie von selbst, wie von Geisterhand geführt, entstanden die Worte. In Großbuchstaben, verewigt im Stein stand dort:

D O N D E E S T Á S?


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Copyright: Boris Schuler Bild: KI






















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